Kinder brauchen Kinder! Über die Bedeutung von Peers und die Frage, ob Kitas trotz Corona öffnen sollten

26. Apr 2020 | Blog, Kita- und Familien-Alltag | 1 Kommentar

Isolierte, traurige Kinder, die Freunde, Großeltern und oft auch die Kita vermissen. Gestresste Eltern, die zwischen Job, Homeoffice und Kinderbetreuung hin und her straucheln, systemrelevante Kindernotbetreuung mit unrealistischen Kontaktgeboten und eine Politik und Wirtschaft, die Familien schlichtweg vergessen hat zu berücksichtigen. Die Rufe nach der Rückkehr zur „Normalität“ – Kinder in die Kitas – werden lauter. Weil Kinder Kinder brauchen. Aber ist das wirklich so – und wenn ja – ist es der richtige Weg?

Inhaltsverzeichnis

1. Ein Garten voller Kinder und Abenteuer
2. Über Kinderbanden und Kinderkultur
3. Kinder brauchen doch gar keine Kinder, sondern nur Menschen, die spielen
4. Die Bedeutung von Peergruppen – Warum Kinder andere Kinder und nicht nur Erwachsene brauchen
5. Die Entwicklung von Peer-Beziehungen und Interaktionen in den ersten sechs Lebensjahren
6. Kinder brauchen andere Kinder! Also auch Kitas?
7. Corona Krise – Sollen die Kitas jetzt flächendeckend wieder öffnen?
8. Mein Fazit: Kinder brauchen starke Beziehungen! Beziehungen zu Eltern UND Kindern (altersgemischt und gleichaltrig)
PS: Lösungsvorschläge für die Corona Krise ohne flächendeckende Kita-Öffnungen
Quellen

Inhaltsverzeichnis

1. Ein Garten voller Kinder und Abenteuer

Ungefähr 7300 m² Grundstück mit Laub- und Nadelbäumen zum Klettern, Hecken und Büschen zum Verstecken, alten Holzzäunen zum Durchschlüpfen, großen Ästen und zerfledderten Stoffbahnen zum Buden bauen, kleinen Stöcken zum Fechten, Sandkästen und Matschküchen, Trampoline zum wilden Hüpfen, Rutschen, Schaukeln an Bäumen und Klettergerüsten, Rutschautos, Roller und Dreiräder zum Fahren, Blumenbeete, Hochbeete, Komposthaufen, Katzen, Igel, Vögel und allerlei Kriechtiere zum Beobachten und Lauschen, Wiesen zum Picknicken oder Rennen, Slackline zum Balancieren und Hängematte, Obstbäume zum Kirschen und Äpfel pflücken oder Marillen aufsammeln, Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren zum Naschen, Himmel zum Wolken zählen und in die Sonne blinzeln, …

Kinder. Viele, viele Kinder im Alter von 0 bis „Teenie“. Ungefähr 70 (von keine Ahnung wie vielen Kindern insgesamt) kenne ich vom Sehen, knapp die Hälfte davon kenne ich mit Namen.

Eltern. Viele, viele Eltern. Eltern, die aus den Fenstern rufen, wenn das Essen fertig ist oder kleine Picknick-Körbchen vom Balkon abseilen. Eltern, die mit ihren Kindern draußen sind und auf sie und andere Kinder aufpassen, untereinander quatschen, grillen oder Feuer machen, Gitarre spielen, Fußball oder Federball mit den Kids.

Und alte Menschen, die sich das bunte Treiben von ihren Wohnungen aus anschauen und sich am lebendigen Leben der Familien freuen.

So leben wir. Alle in ihren Wohnungen und doch irgendwie in Gemeinschaft. Ein bisschen wie bei Astrid Lindgrens Bullerbü Geschichten – nur eben mitten in der Großstadt.

2. Über Kinderbanden und Kinderkultur

Altersgemischte Kinderbande würde Dr. Herbert Renz-Polster zu diesen Möglichkeiten sagen, die wir hier für unsere beiden Jungs haben. Kinder, die sich in „informellen Gelegenheitsgruppen […] in der Freizeit ungeplant zum Spielen treffen“ (1) regen sich „gegenseitig dazu an, sich körperlich, geistig und emotional zu strecken.“ (2) schreibt er in seinem Buch „Menschenkinder“. Die Jüngeren und Schwächeren lernen von den Älteren und sind motiviert sich weiterzuentwickeln. Die „Großen“ wiederum lernen sich auf die „Kleinen“ einzustellen und entwickeln ihre soziale Verantwortung und Empathie für andere. So entsteht Kooperation und weniger Konkurrenz wie vergleichsweise in gleichaltrigen Kindergruppen. (3)

Doch egal ob gleichaltrig oder altersgemischt –

Kinder sind füreinander eine Beziehungs- und Bildungsressource. […] [Sie] produzieren, sobald sie in relativ stabilen sozialen Gruppen zusammentreffen, eine eigenständige Kinderkultur mit ihr eigenen Verfahren, Aushandlungsprozessen und Regeln.“ (4)

Prof. Dr. Susanne Viernickel

Prof. Dr. Susanne Viernickel hat zur Bedeutung von Peer-Interaktionen promoviert und viele Jahre in Kindertageseinrichtungen geforscht. Sie lehrt an der Universität Leipzig an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät für Pädagogik der frühen Kindheit und beschäftigt sich mit Qualitätskriterien und Rahmenbedingungen in Kitas.

Wissenschaftliche Theoriebildung und empirische Untersuchungen haben ergeben, dass Kinder im sozialen Kontakt mit anderen Kindern qualitativ andere Erfahrungen als in Interaktionen mit Erwachsenen erleben. Die Themen, mit denen sie sich beschäftigen, die Kriterien, nach denen ihr Verhalten beurteilt wird und ihre Stellung in der Gruppe sind unter Kindern anders als vergleichsweise zwischen Kindern und Erwachsenen. Daher sprechen pädagogische Wissenschaftler*innen von einer eigenständigen Peer-Kultur. Kinder gestalten innerhalb dieser Kinderkultur ihre eigene Entwicklung aktiv, sie lernen voneinander und sind in einen sozio-kulturellen Kontext eingebunden. (5)

3. Kinder brauchen doch gar keine Kinder, sondern nur Menschen, die spielen

Spielen ist das Leben und Lernen der Kinder. Kinder sind Lehrmeister*innen, von denen wir als Erwachsene lernen dürfen. Genauso wie Kinder von uns lernen können, sowohl im Alltag als auch im gemeinsamen Spiel. Brauchen Kinder dann überhaupt andere Kinder? André Stern sagt Nein. Seiner Meinung nach brauchen Kinder nur Menschen, die spielen. Und wenn wir als Eltern keine Lust auf Spielen haben, dann haben wir das Spielen einfach nur verlernt? Schon oft habe ich André Stern begeistert sprechen hören und ich schätze ihn sehr für sein stetes Engagement für die Bedeutung des kindlichen Spiels und seine Überzeugung, dass Kinder keine Schule brauchen. Und doch bin ich, was seine These betrifft, anderer Meinung.

Was Kinderkultur nämlich nicht meint ist, eine von Erwachsenen FÜR Kinder geschaffene Kultur.

Kinder gestalten mit Kindern eine eigene Kultur und diese entzieht sich unserem erwachsenen Zugriff. Wir sollten diese Kinderkultur als eine eigene Welt respektieren, förderliche Bedingungen für sie schaffen anstatt aktiv zu regulieren. (6) Auch Herbert Renz-Polster beschreibt, dass die Erwachsenen auf dem Vormarsch sind und unbeaufsichtigte Spielräume für Kinder leider seltener geworden sind.

Für die heutige Welt gilt: „Wo immer Kinder sind, sind Erwachsene schon da.“ (7)

4. Die Bedeutung von Peergruppen – Warum Kinder andere Kinder und nicht nur Erwachsene brauchen

„Peers: Kinder, die auf einem ähnlichen kognitiven und sozio-moralischen Entwicklungsstand stehe, gegenüber Institutionen und ihren Repräsentanten (z.B. Kindergarten, Schule) eine gleiche Stellung einnehmen, gleiche Entwicklungsaufgaben und normative Lebensereignisse (z.B. Schuleintritt) zu bewältigen haben und einander im Wesentlichen gleichrangig und ebenbürtig sind. (von Salisch)“ (8) James Younis (Entwicklungstheoretiker) beschreibt die Entwicklung von Menschen als Ergebnis ihrer Erfahrungen aus sozialen Beziehungen. Die individuele Entwicklung und die sozialen Erfahrungen mit anderen Menschen und der Umwelt sind untrennbar miteinander verwoben. Diese Annahme der Ko-Konstruktion von Wirklichkeit und Persönlichkeit ist die Basis seiner Theorie.

Gleichaltrige präsentieren Kindern vielfältige Realitätssichten, Erwachsene nicht.

Erwachsene bieten Kindern lediglich partikularistische, einseitige Realitätssichten an, deren Unvollständigkeit und Einseitigkeit Kinder lange Zeit nicht bemerken können. Kinder sind besser geeignet verschiedene Perspektiven auf eine Situation zu ermöglichen.

Wenn Kinder miteinander in Interaktion treten, bedingen sich ihre Handlungen gegenseitig (symmetrische Reziprozität). Der Unterschied zur Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen ist, dass diese Handlungen gleichwertig sind.

Das Kompetenz- und Machtverhältnis zwischen Gleichaltrigen ist relativ ausgeglichen, im Gegensatz zum Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern.

Der ebenbürtige Austausch bietet also mehr Gelegenheit Widersprüche oder Meinungsverschiedenheiten intensiv zu diskutieren, bis wirklich verschiedene, umfassende Perspektiven ausgelotet worden sind. Das Teilen und Übernehmen von Sichtweisen findet zwar auch zwischen Erwachsenen und Kindern statt, aber auch wenn Erwachsene zugewandt und freundlich sind, haben sie eine Definitionsmacht aufgrund ihrer Erfahrung, Autorität oder intellektuellen Überlegenheit und das Kind wird geneigt sein, ihre Perspektive zu übernehmen.

Unter Gleichaltrigen findet der Prozess der Ko-Konstruktion als gemeinsame und echte Leistung statt, ohne dass ein Kind dem anderen Kind die Lösung vorsetzt.

Stattdessen werden Argumente solange ausgehandelt bis eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden wurde oder die Kinder überlegen, ob sie ihre Meinung weiterhin durchsetzen wollen oder nicht, um die Beziehung nicht zu gefährden oder vom Spielen ausgeschlossen zu werden. Der eigene Standpunkt wird zwar vertreten, aber nicht um jeden Preis. Auf diese Weise der grundsätzlichen Gleichrangigkeit können Kinder bereits sehr komplexe Konzepte (zb. über Gerechtigkeit) miteinander verhandeln. (9)

Kinder kommunizieren mit gleichaltrigen Kindern anders als mit Erwachsenen.

Auch bereits ein- und zweijährige Kleinkinder passen ihre Verhaltensweisen an: sie kommunizieren mit Peers über Berührung und Gesten, gegenüber Erwachsenen vokalisieren sie überwiegend. Das bedeutet, sie versuchen Erwachsene mit sprachlichen Mitteln zu erreichen.

Der Spielkamerad dagegen ist sowohl dem Ich des Kindes ähnlich als auch davon verschieden. Er ist ihm ähnlich, weil er gleich ist im Können oder Wissen; ganz verschieden aber, gerade weil er auf demselben Niveau steht und nicht wie ein überlegener Erwachsener in das Innere der Wünsche oder in die Perspektive des eigenen Denkens eindringt.“(10) Jean Piaget

Kinder erleben in der Interaktion mit anderen Kindern Differenzerfahrungen, wenn es ihnen z.B. nicht gelingt ihr Anliegen oder Kontaktangebot so zu kommunizieren, dass das andere Kind es versteht, sodass es in der Folge zu Spielabbrüchen oder Konflikten kommen kann. Erwachsene gleichen diese fehlenden Kompetenzen aus, indem sie die Führung in der Interaktion übernehmen.

Erwachsene kompensieren Verhaltensweisen von Kindern und überschätzen ihre Kompetenzen, weil sie die Perspektive des Kindes automatisch mitdenken und ergänzen.

Peers untereinander gleichen missverständliche Signale nicht automatisch aus, so dass Kinder die Erfahrung machen, dass sie selbst aktiv werden dürfen um eine Spielsituation z.B. aufrechtzuerhalten. Kinder erlernen durch diese Differenzerfahrungen Wissen über soziale Situationen und ihre eigene Selbstwirksamkeit. Sie verfeinern ihre Kommunikation und spüren, dass sie ein eigenständiges, von anderen abgegrenztes Wesen sind. (11)

5. Die Entwicklung von Peer-Beziehungen und Interaktionen in den ersten sechs Lebensjahren

Babys brauchen noch keine Kinder? – über Interesse und Kontaktaufnahme im ersten Lebensjahr

Säuglinge verhalten sich gleichaltrigen gegenüber anders als materiellen Objekten gegenüber. Man kann beobachten, wie sie andere Babys anlächeln, mit ihnen Lautieren, versuchen sich ihnen zu nähern oder sie zu berühren. Ab ca. neun Monaten treten sie in erste Interaktionen durch den Austausch von Spielzeug und sie ahmen einander nach. Es entstehen erste, einfache gemeinsame Spiele und auch Besitzkonflikte. (12)

Kleinkinder brauchen noch keine Kinder? – über dyadische Interaktionskompetenz im zweiten Lebensjahr

Der Kontakt und soziale Austausch im zweiten Lebensjahr steigt enorm – allerdings können das Kinder erstmal nur zu zweit. Prof. Dr. Susanne Viernickel forschte in Spielgruppen und Kitas und zählte u.a. die Anzahl der Kontaktaufnahmen unter den Kindern. Da die sprachlichen Möglichkeiten in diesem Alter noch eine untergeordnete Rolle spielen, nutzen Kinder ihre Mimik, Gestik, Körperhaltung und vor allem Imitation als Sprache der Kleinkindfreundschaften. Mit zunehmenden Alter steigen die Fähigkeiten Kontakte aufrechtzuerhalten, oft geschieht das im zweiten Lebensjahr über das Anbieten und Überreichen von Spielobjekten. (13)

Formen des sozialen Spiels

Basierend auf Beobachtungsstudien hat Mildred B. Parten eine bis heute gültige Systematik zur Entwicklung des Spiels erarbeitet. In den ersten Lebensjahren befinden sich Kinder hauptsächlich im:

  • Beobachtungsspiel (d.h. Kind beobachtet beim Spielen, begibt sich nicht in das Spiel hinein, zeigt keine sichtbare Spielaktivität)
  • Alleinspiel (d.h. Kind spielt allein, Spielmittel unterscheiden sich von denen anderer Kinder, kein Versuch der Annäherung)
  • Parallelspiel (d.h. Kind spiel neben bzw. in der Nähe von anderen Kindern, Spielmittel ähnelns sich oder sind gleich, keine Beeinflussung des Spiel anderer Kinder)
  • Assoziationsspiel (d.h. Kind spielt mit anderen Kindern, gemeinsame Spieltätigkeit, Spielmittelaustausch, gleiche Tätigkeit für alle, Eigeninteressen sind untergeordnet)
Mit zunehmendem alter nimmt die Häufigkeit dieser Spielformen ab (ohne dass sie gänzlich verschwinden) und neue Spielformen kommen hinzu:
  • Koalitives Spiel (d.h. Kind spielt in Gruppen, Eigeninteressen werden untergeordnet, gemeinsames Gruppenziel, feste Rolleneinordnung)
  • Kooperationsspiel (d.h. Kind spielt in Gruppen, gemeinsames Gruppenziel, arbeitsteilig, flexible Rollenübernahme, freiwillige Akte des Helfens) (14)

Kinder brauchen keine Kinder? – über die Entwicklung von prosozialem Verhalten im dritten bis sechsten Lebensjahr

Mit zunehmenden Alter der Kinder sind immer komplexere soziale Spiele möglich und diese sind ein Indikator für Lernen. Kooperationsspiele bedürfen z.B.

  • einer Koordination der Spielhandlungen (dies benötigt soziale Kompetenz),
  • Emotionsäußerung und Emotionsregulation (also emotionale Kompetenz)
  • Integration imaginärer und symbolischer Inhalte (das erfordert kognitive Kompetenz). (15)

Prosoziales Verhalten (also Verhaltensweisen, die den Interaktionspartner nutzen, ohne dass ein direkter, eigener Vorteil erkennbar ist) entwickelt sich vor allem im Spiel mit Kindern.

Während im zweiten Lebensjahr das Trösten von anderen Kindern beispielsweise noch durch das Teilen von Besitz (anderes Kind weint, also bringt Kind ihm seinen Schnuller, weil es selbst gern nuckelt, wenn es weint) stattfindet, differenziert sich die Perspektivübernahme im dritten bis sechsten Lebensjahr weiter aus. Dies führt zu gegenseitigem Helfen, Teilen und dem gemeinsamen Entwickeln von Regeln und Überzeugungen. (16) Daneben entstehen natürlich auch altersentsprechende Konflikte, auf deren Bedeutung einzugehen an dieser Stelle jedoch zu weit führt. Genauso wie die Bedeutung von Freundschaften unter Kindern nochmal vertiefend an anderer Stelle behandelt werden sollte.

6. Kinder brauchen andere Kinder! Also auch Kitas?

Nein. Kinder brauchen keine Kitas, wenn sie regelmäßig wiederkehrende gleichaltrige und altersgemischte Kinder außerhalb von Kitas haben. Unser Garten, den ich eingangs beschrieb, ist oft voller Kinder – nachmittags und am Wochenende. Vormittags ist er bis auf wenige Kleinkinder leer. Und wenn meine Jungs öfter mal zu Hause bleiben, dann ist das einerseits toll und wir genießen das, andererseits finden sie es auch doof, weil „niemand zum Spielen da ist“.

Ein Gedankengespräch mit André Stern

André: „Stefanie, dann spiel du doch mit deinen Kindern.“

Ich: „Ja, mach ich auch. Und dann ist es irgendwann gut mit Spielen, weil ich Lust habe mich mit meinem Erwachsenenkram zu beschäftigen. Und weil mein Kind Lust hat mit anderen Kindern zusammen zu sein, um sich z.B. mit seinem Freund über den 143. Pipi-Kacka-Witz totzulachen.“

André: „So wie mir scheint, hast du nur das Spielen verlernt.“

Ich: „Vielleicht, dafür kann ich andere wichtige Sachen für und mit meinen Kindern echt gut. Mein Mann hat das Spielen aber nicht verlernt, der kann das wie eh und je. Aber auch da ist irgendwann was anderes dran. Für ihn und für die Jungs. Und weißt du, André, im Vortrag damals hast du erzählt, dass ihr elf (?) Erwachsene gewesen seid, die sich um eure Kinder gekümmert haben. Also so, dass die Kinder mal dort und mal dort waren, immer jemand für sie da war, und ihr trotzdem euren (erwachsenen) Lieblingsbeschäftigungen nachgehen konntet – mit und ohne Kinder. Das ist toll. Denn Erwachsene brauchen auch Zeit für sich, genau wie Kinder. Nun… wir sind hier zwei. Nicht elf, nicht neun, nicht fünf, sondern zwei. Und diese, wir zwei, tragen die Verantwortung für Kinder, Essen, Einkauf, Haushalt, Arbeit, Ehrenamt, usw. Mein Mann mit Ausbildungsgehalt, der also nicht so viel verdient, dass ich meine Selbständigkeit nur als Hobby betreiben kann. Und ich, die einfach gern arbeitet. Ich liebe das, was ich tue. Und dafür brauche ich Zeit. Allein. Deswegen entsteht dieser Blogartikel nachts. Weil jetzt meine Kinder schlafen. Es ist 6:32 Uhr.“

André: „Hmmm, verstehe. Aber ihr habt doch diesen wundervollen Hof und Garten, das wäre doch ideal.“

Ich: „Ohja, das stimmt. Und wenn hier ein paar mehr oder gar alle Familien ihre Kinder grundsätzlich selbst betreuen würden und wir uns – so wie bei euch – untereinander mit Spielen, Aufsicht und Essensversorgung abwechseln könnten, dann bräuchten wir auch weder Kindergarten noch Schule. Dann wären immer genug Kinder und auch Erwachsene da. Zum Spielen, zum Lernen, zum Leben. Nachmittags und an den Wochenenden klappt das gut und die Kinderhorde ist draußen oder enge Freunde auch mal bei uns oder unsre Jungs bei den anderen Familien zu hause. Aber leider ist das nicht kontinuierlich genug, um ausreichend Freiraum für unsere eigene Arbeit zu haben. Also sind wir am Ende doch allein verantwortlich für unsere Kinder.

Und weiterhin: Diese wichtige Kinderkultur, erleben unsere Kinder dennoch und glücklicherweise auch hier im heimischen Wohnumfeld und nicht nur in Kindergarten und Schule. Doch viele Familien wohnen noch isolierter und ihren Kindern kann diese Peerkultur oft nur in Kitas ermöglicht werden.

Deswegen ist es für einige Kinder so, dass sie Kitas tatsächlich brauchen, weil sie Kinder! und nicht nur Eltern brauchen und diese Kinder oft nur in Kitas zu finden sind. Wie sehr Kinder andere Kinder vermissen, merken viele Eltern gerade jetzt in diesen Wochen“

7. Corona Krise – Sollen die Kitas jetzt flächendeckend wieder öffnen?

Artikel und Petitionen kreisen durchs Netz. Rufe werden lauter. Wenn Eltern jetzt immer mehr nach den Kita Öffnungen verlangen, dann hat das meiner Meinung nach mehrere Gründe.

Weil sie

  1. sich von der Politik im Stich gelassen fühlen.
  2. zwischen den Anforderungen ihrer Jobs und der gleichzeitigen Kinder-Selbstbetreuung zermatscht werden.
  3. das Regelschulsystem im Homeschooling weiterführen sollen.
  4. vermehrt Konflikte erleben, wenn plötzlich alle so viel zu Hause sind.
  5. kleine Wohnungen oder keinen eigenen Garten haben.
  6. Angst haben – vor dem Virus und Krankheit, vor Jobverlust oder gar Existenzbedrohung.
  7. seelisch oder körperlich nicht gesund genug sind und ihnen die Ressourcen fehlen.
  8. allein“erziehend“ und allein verantwortlich sind.
  9. von ihren Kindern noch öfter gespiegelt und auf wunde Punkte hingewiesen werden.
  10. vielleicht auch etwas aus der Übung sind mit ihren Kinder dauerhaft so eng im Kontakt zu sein.
  11. das alles schmerzt und sie sich unfähig fühlen wenn sie gefühlt versagen.

Doch trotz all der genannten Vorteile und hohen Bedeutung von Peer-Beziehungen unter Kindern und der unglaublich hohen Belastung von Eltern in dieser Corona Zeit schreibe ich ein klares: NEIN ! Kitas sollen jetzt nicht sofort alle wieder öffnen.

Warum Kitas noch geschlossen bleiben sollten:

Ich verzichte an dieser Stelle auf wissenschaftliche Argumente was den Corona Virus selbst und die Infektionsraten usw. betrifft, dafür gibt es andere Expert*innen.

Was mich zu einem klaren Nein bewegt ist der Blick aus bindungs- und bedürfnisorientierter Perspektive. Ich bin Expertin, Beraterin und Referentin für beziehungsstarke Eingewöhnung und davon bin ich 100%ig überzeugt.
Ich spüre, lese und höre wie schwierig die Lage in den Kitas aktuell noch ist. Es gibt so viele hygienische Bestimmungen und unrealistische Kontakt-, nein, Abstandsregelungen für die Notbetreuung.
Es gibt oft noch keine zu Ende gedachten Pläne zur sanften Rückkehr von gleichzeitig vielen Kindern in den Kita-Alltag. Es ist mit wiederholten Eingewöhnungsphasen zu rechnen, mit emotionalen Lagen, die besonders behutsam begleitet werden müssen. An niemandem geht diese Corona Krise vorbei – an Kindern nicht, an Eltern nicht und an pädagogischen Fachkräften nicht.
Einige Erzieher und Erzieherinnen halten Kontakt zu den Kindern, weil auch sie ihre Schützlinge vermissen. Andere lassen die Beziehungen kalt werden. Andersrum auf Eltern bezogen ganz genauso.
Und ich schaue gemäß meiner Philosophie des Beziehungsdreiecks auf alle Beteiligten. Und ich stelle fest: nein, jetzt spontan alle Kitas zu öffnen, nur weil Politik und/oder Eltern das fordern, das wäre alles noch zu früh.
Lass uns reden und ich unterstütze dich als Mama/Papa beim Wiedereinstieg deines Kindes und als Erzieher*in bei den Vorbereitungen zum Kita Start nach Corona.

„Aber Stefanie, du hast doch geschrieben, wie wichtig andere Kinder für unsere Kinder sind…“

denkst du dir jetzt vielleicht. Und JA! Das stimmt. Und weil meine Kinder jetzt bestimmt gleich wieder aufwachen, kommt nun der Schluss.

8. Mein Fazit: Kinder brauchen starke Beziehungen! Beziehungen zu Eltern UND Kindern – altersgemischt UND gleichaltrig.

Die Basis für Urvertrauen, Bindung und Beziehung sind und bleiben Eltern bzw. familiäre Bezugspersonen. Sie bereiten dem Kind den Nährboden für alle folgenden sozialen Beziehungen zu anderen Menschen – ganz egal ob zu Kindern auf dem Spielplatz oder in der Kita und zu anderen Erwachsenen z.B. in Kita oder Schule.

Zusätzlich zu beziehungsstarken Erwachsenen brauchen Kinder aber auch andere Kinder!

Wie ich anhand wissenschaftlicher Aspekte erläutert habe, können Erwachsene die Art und Weise wie Kinder untereinander interagieren weder nachahmen noch ersetzen. Geschwister zählen zwar unter Spiel- und Interaktionspartner*innen, gelten aber nicht als andere Kinder. Denn innerhalb der Familie sind bspw. die Rollen festgeschrieben: der*die Erstgeborene wird immer der*die „Große“ bleiben usw. Und auch weil innerhalb der Familie stärker die Liebe und Konflikte in der Eltern-Kind-Beziehung eine Rolle spielen, ist es nicht 1:1 übertragbar. Geschwister haben andere Abhängigkeiten voneinander als Kinderfreunde.

Kinder brauchen Freiraum und freie Zeit für ihre eigene Kinderkultur.
Diese besteht aus jüngeren, gleichaltrigen und älteren Kindern.
So können alle Vorteile von altersgemischten Kinderbanden und
gleichaltrigen Peers vereint werden.

Momentan sind wir als Eltern zu Hause und pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen herausgefordert. Es ist wichtig, dass wir beziehungsstark für unsere Kinder da sind. Das ist mein Lieblingswort und meine Philosophie. Aber ich weiß auch, wie schwer das manchmal ist.

Das Familienhaus für beziehungsstarke Familien

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PS: Lösungsvorschläge für die Corona Krise ohne flächendeckende Kita-Öffnungen

Damit Eltern und Kinder physisch UND psychisch gesund durch die Corona Krise kommen müsste die Politik mehr an Familien denken und sie unterstützen, anstatt sie mit den Herausforderungen und Belastungen allein zu lassen. 1. Immer die gleichen zwei bis drei Familien dürfen sich sehen, gegenseitig die Kinder betreuen oder sich im Haushalt, beim Einkaufen, … unterstützen. Eltern können so im Wechsel arbeiten (im Beruf oder Homoffice) oder sich auch einfach ausruhen und die Akkus aufladen. Allein. Ohne Kind/Kinder nebenbei.

Entlastung für Kinder, die ohne Freunde, Verwandte, Spielplatz, Spielen in Kita oder Hofpause unter sozialem Kontaktmangel leiden und alle ihre Beziehungsgefährten Vermissen oder sich mit Geschwistern und/oder Eltern streiten.

Entlastung für Eltern, die zwischen Kinderbetreuung, Emotionsbegleitung, Einkaufen, Arbeiten im Beruf, Homeoffice mit Kindern, Existenzängsten und evtl. Beziehungskonflikten hin und her pendeln, dabei ihr Bestes geben und bereits 15 Uhr nachmittags erschöpft in die Knie gehen.

Entlastung für die Gesellschaft, weil heimliches Treffen mit anderen unnötig wird und gleichzeitig Ansteckungswege nachvollzogen werden können. Und auch Entlastung, weil durch wechselseitiges Betreuen auch mehr Menschen wieder arbeiten können und generell auch in ihrer Kraft bleiben, weil sie nicht mit dem ganzen Corona Sch… alleine da stehen.

2. Die Schule schickt keine Wochenpläne mehr und Lernen kann einfach im Alltag intrinsisch motiviert stattfinden. Genauso wie wir das in den letzten drei Wochen schon gemacht haben – ohne Lehrbuch, Arbeitsblätter und Pflichtaufgaben. Sondern einfach „aus dem Leben heraus“.

Entlastung für Eltern, die keine ausgebildeten Lehrkräfte sind und aufhören können so zu tun als ob sie es wären und dabei das Risiko von schädlichen Beziehungskonflikten mit ihren Kindern eingehen.

Entlastung für Kinder, die Stoff von Laien lernen sollen, der (abgesehen von den Kulturtechniken) zu oft am realen Leben vorbeigeht.

Entlastung für Lehrkräfte und eine Chance, das Bildungssystem wirklich zu revolutionieren.

Quellen

(1) Renz-Polster, Herbert: Menschenkinder – Plädoyer für eine artgerechte Erziehung, Kösel Verlag, 3. Auflage 2012, S. 55 (2) ebd. S. 57 (3) Vgl. ebd. (4) https://www.coursehero.com/file/29721080/viernickel-skriptdoc/ letzter Zugriff: 26.04.2020, 02:57 Uhr (5) Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=_kU7JioUBvg, letzter Zugriff: 26.04.2020, 03:21 Uhr (6) Vgl. ebd. letzter Zugriff: 26.04.2020, 03:44 Uhr (7) Renz-Polster, 2012, S. 59 (8) Viernickel, Susanne: Kinder brauchen Kinder – Die Bedeutung der Peers, 2014, PDF S. 5 https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=114:kinder-brauchen-kinder-die-peers-prof-dr-susanne-viernickel&catid=129 letzter Zugriff: 26.04.2020, 05:43 Uhr (9) Vgl. Viernickel, Susanne: Kinder brauchen Kinder – Die Bedeutung der Peers, 2014 https://youtu.be/_kU7JioUBvg, letzter Zugriff: 26.04.2020, 04:23 Uhr (10) Piaget, Jean: Sprechen und Denken des Kindes, 1968/1972, S. 72 (11) Vgl. Viernickel, Susanne: Kinder brauchen Kinder – Die Bedeutung der Peers, 2014 https://youtu.be/_kU7JioUBvg, letzter Zugriff: 26.04.2020, 04:23 Uhr (12) Viernickel, 2014, PDF S. 7 (13) ebd. S. 8 (14) Heimlich, Ulrich: Das Spiel mit Gleichaltrigen in Kindertageseinrichtungen – Teilhabechancen für Kinder mit Behinderung, 2017, PDF S. 17 https://www.weiterbildungsinitiative.de/publikationen/details/data/das-spiel-mit-gleichaltrigen-in-kindertageseinrichtungen/?L=0, letzter Zugriff: 26.04.2020, 04:23 Uhr (15) Viernickel, 2014, PDF S. 9 (16) ebd. S. 10
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Stefanie von Brück

Stefanie von Brück

ist Expertin für beziehungsstarke Eingewöhnung, Familie und Kita. In ihrem früheren Berufsleben hat sie als Lehrerin (Staatsexamen) für Sozialpädagogik, Ethik/Philosophie zukünftige pädagogische Fachkräfte ausgebildet. Heute

  • unterstützt sie online Eltern bei der Eingewöhnung ihrer Kinder und
  • begleitet sie anschließend durch die gesamte Kita-Zeit,
  • bildet deutschlandweit pädagogische Fachkräfte und Kita-Teams fort und
  • gründet ehrenamtlich einen Bildungscampus (eigene Kita und freie Schule) in Leipzig.

Als Pädagogin, Mutter und Visionärin steht sie für ein bedürfnisorientiertes, bindungssicheres und beziehungsstarkes Zusammensein zwischen Erwachsenen und Kindern in Familie UND Kita. Auch wenn nicht alles FriedeFreudeEierkuchen ist. Denn dann ist es am schwierigsten und gleichzeitig am wichtigsten.

Stefanie von Brück ist Vermittlerin zwischen Kind, Eltern und pädagogischen Fachkräften und hat stets das Beziehungsdreieck im Blick, so dass alle Beteiligten gleichwürdig respektiert werden.